SPIEGELSCHRIFT

Aus dem 17. Kapitel

 

„Was hat Anna Herz mit Nora Lieblich gemeinsam?“

„Das Alter, aber nicht die Sportlichkeit. Ich bin ein Faulpelz.“

„Lesen Sie privat Kriminalromane?“

„Ich lese am liebsten Theaterstücke und manchmal in einsamen Stunden Gedichte.“

„Gibt es in Frau Herz’ Leben viele einsame Stunden?“

„Schreiben Sie selbst?“

„Wünschen Sie sich wie Nora Lieblich ein Singleleben? Oder können Sie sich ein Familienleben und Kinder vorstellen?“

 

So ging es fünfzehn, zwanzig Minuten. Anna verspürt keine Nervosität bei Journalistenfragen. Sie war gewohnt, alles von Bedeutung zu verschweigen, sie kannte es nicht anders. Wenn man ihr zu nahe kam, wich sie aus. Früher, in ihrer Jugend, hatte es qualvolle Verlegenheit, Schweigen oder gestammelte Floskeln gegeben, nun wusste sie mit den Fragern umzugehen. Es ging nicht um die Wahrheit, war nur ein Spiel, um die Phantasie zu entzünden, der Journalisten und ihrer Leser, ihres Publikums. Unvermeidlich kam die Rede auf die Serie und ob sie nicht fürchtete, dass ihr schauspielerisches Image durch die Rolle leiden könnte, sie auf immer als Kommissarin abgestempelt war. Darauf antwortete Anna mit ehrlicher Begeisterung. Sie war keine Kommissarin sondern Frau Kriminaloberinspektorin, und sie kannte keine Ermüdungserscheinungen, die Rolle war ihr auf den Leib geschrieben. Einige der Journalisten waren schon beim Drehen dabei gewesen und stellten Fragen nach dem Krimi. Ob die psychisch kranke Mutter sich als unschuldig entpuppen würde? Besaß Oberinspektor Lieblich einen gesunden Menschenverstand, ein gutes Herz oder eine übernatürliche Intuition?

Alvin stand neben der Studiotür, seine Zigarettenpackung in der Hand. Anna hatte zweimal versucht, ihn in das Interview einzubeziehen, doch die Aufmerksamkeit kehrte schnell zu ihr zurück. Alvins spitzzüngige Antworten gefielen den Journalisten nicht, weil sie nicht sicher waren, ob sie ihn richtig verstanden oder von ihm verhöhnt wurden.

Irina saß neben Anna und passte auf, dass das Gespräch locker blieb. Sie war zufrieden mit Annas Performance. Nach einer halben Stunde erschien Miho, warf Irina einen auffordernden Blick zu und klopfte auf seine Uhr.

„Eine letzte Frage!“ rief eine Frau von hinten, die bisher noch nichts geäußert hatte. „Nora Lieblich hat einen Freund. Anna Herz hat man bisher gewöhnlich in Damenbegleitung gesehen.“ Sie deutete auf Irina. „Ihre schöne Agentin ist immer an Ihrer Seite. Darf man sich etwas dabei denken?“

Ein kurzes angespanntes Schweigen senkte sich über die versammelte Journalistenrunde. Es war ein Unterschied, ob Menschen der Öffentlichkeit ihre Homosexualität deklarierten oder danach gefragt wurden. Sie hatte die Frage nach Singleleben oder Familie beantwortet, damit war alles gesagt. Beantworte nur, was du beantworten willst, lautete Irinas Regel. Doch Anna sah sie nicht an. Sie schüttelte leise amüsiert den Kopf.

„Liebe Dame, wir sind hier nicht bei der Loveparade. Die Damen und Herren in meiner Gesellschaft sind nicht meine Sexualpartner, wir verkehren geschäftlich.“

Erleichtertes Lachen löste die Spannung. Miho kam durch den Raum, stellte sich hinter Anna und legte ihr beide Hände auf die Schultern. „Was nicht bedeutet, dass niemand davon träumen würde“, sagte er. „Oder besser gesagt: Wer träumt nicht davon?“ Er drückte ihr einen Kuss auf den Hals. „Jetzt muss ich Ihnen Anna Herz aber wieder entführen. Nora Lieblich ist dran.“

Anna spürte eine Bewegung an ihrer Seite, aber sie schaute nicht hin. Sie wusste, dass Irinas Wangen sich verräterisch rosa gefärbt hatten.

„Moment noch, bitte!“ rief eine Frauenstimme, wieder von hinten. War es die Fragerin von vorhin? „Frau Herz, Sie haben einmal in einem Interview gesagt, die Darstellung psychischer Krankheit im Film sei Ihnen aus persönlichen Gründen zuwider. Wie geht es Ihnen mit der Rolle der psychotischen Mutter in diesem Krimi?“

Anna hatte nie ein solches Interview gegeben. Und in keinem Pressetext war von psychotisch die Rede gewesen. Sie versuchte, die Frau im Publikum auszunehmen, aber die Scheinwerfer blendeten sie, und sie konnte nur einen hellen Haarschopf erkennen.

„Evalind ist eine großartige Schauspielerin und Kollegin. Ich freue mich, dass wir in diesem Film zusammenarbeiten“, antwortete sie freundlich. Sie stand auf, winkte in die Runde und folgte Miho.

„Was war das?“ knurrte Alvin, als sie draußen waren. „Die Leute wissen mehr von einem als man selbst, was?“ Er klopfte Annas Schulter. „Tja, das ist der Preis des Ruhms. Ich habe kein bisschen Mitgefühl, höchstens Schadenfreude.“ Sein Witz war wie so oft zu scharf, aber Anna machte sich nichts daraus. Zumindest erwartete er keine Antwort. Sie spürte Mihos fragenden Blick und ging eilig in ihre Garderobe.

„Bitte nicht!“ sagte sie unwillig zu Irina, die zu ihr wollte. Sie musste allein sein. Nachdenken. Die Frage war eindeutig auf Isabella gemünzt. Doch wer konnte etwas über sie wissen? Niemand außer der Familie hatte Bescheid gewusst. Und Mario. Der ihr versprochen hatte zu schweigen. Ein Versprechen, das er offenbar nicht gehalten hatte.

 

 

 

 

 

 

 

Über Spiegelschrift – Roman in Arbeit: Die TV-Kommissarin Anna Herz bekommt drei anonyme Briefe, die ein Geheimnis ihrer Vergangenheit andeuten. Nur ein Mensch kennt die Wahrheit, ihr Jugendfreund Mario. Sie haben sich seit 17 Jahren nicht gesehen, Mario lebt in Italien. Jetzt plötzlich meldet er sich bei Anna. Er will sie, seine erste Liebe, wiedersehen. Wer, wenn nicht er, hat die Briefe geschrieben?