Münchner Fernsehpreis Literavision 2022 für ANTSCHEL

Susanne Ayoub: „Antschel – Filmessay über Paul Celan zu seinem 100. Geburtstag“ (ORF) Mit Füllfederhalter in einen Spiralblock geschrieben: „Erreichbar, nahe und unverloren blieb inmitten der Verluste dies Eine: die Sprache.“ Gefolgt von der Fotografie eines mit antisemiti-schen Tiraden beschmierten Schaufensters. Es ist eines der konkreteren Bilder in Susanne Ayoubs Film „Antschel“, der in doppelter Hinsicht ein persönlicher Film ist. Da sind zum einen die wiederkehrenden Zeilen aus unterschiedlichen Texten Paul Celans, die eine Hand aufs Papier schreibt, gefolgt von assoziativen Szenen: Buchenwälder, die Hauseingänge und Straßen von Czernowitz und Sadagora, Landschafts- und Stadtansichten, Szenen also, die Celans Sprachbilder interpretieren, visualisieren und in denen Susanne Ayoubs eigener Blick auf den Dichter und sein Werk spürbar wird. Und dann ist da die zweite persönliche Ebene, die Celans langjähriger Freund, der 93-jährige Klaus Demus in den Film hineinträgt, indem er als Wegweiser fungiert. Was Susanne Ayoubs Filmbildern an Konkretheit fehlt, wird durch Demus‘ Schilderungen ins Gleichgewicht gebracht: Er erzählt, in seiner Wohnung sitzend, von seiner Verehrung für den Freund, dessen übergroße Verletzlichkeit zum Bruch zwischen den beiden führte, von Celans Verfolgungswahn, seinem Freitod in der Seine. Demus zeigt Fotos, Briefe, Bücher und sagt an einer Stelle: „Wer nach dem eigentlich Gemeinten fragt, der hat die Poesie nicht begriffen.“ Es ist ein zentraler Satz, der sich auf Ayoubs Film übertragen lässt. Wer nach der genauen Bedeutung der Bilder fragt, die viel zeigen, aber nichts erklären, dürfte sich abgewiesen fühlen. „Antschel“ ist eher eine künstlerische Dokumentation, in der die 1956 in Baghdad geborene Filmemacherin die Zuschauer mit formaler Strenge fordert, ihnen gleichzeitig aber Zeit und Raum gibt, um Celans Sprache einerseits und Klaus Demus‘ Berichte andererseits auf sich wirken zu lassen. So entsteht ein dichter, poetischer Film, der viele Fragen offen-lässt, uns als Zuschauer dadurch aber auch einlädt, Celan wieder zu lesen, um ihn uns selbst neu zu erschließen. Die nominierten Filme wurden am 18. und 19. November 2022 im Rahmen des Münchner Literaturfests bei einer zweitägigen öffentlichen Jurysitzung gezeigt und diskutiert. Weitere Informationen zum Preis unter www.muenchen.de/literatur