Mandragora

Roman
Verlag Braumüller 2010

In Wien treibt ein Geheimkult seltsame Blüten: die Ariosophen. Maskiert und verkleidet trifft sich die Crème der Gesellschaft im Salon des Schuldirektors Panigl, auch hochrangige Nazis. Während sie die Reinhaltung der arischen Rasse beschwören, geben sie sich bizarren sexuellen Ritualen hin. Mit einer Droge betäubt nimmt die junge unerfahrene Lehrerin Pola Wolf an der „magischen Soirée“ teil – und das Unheil seinen Lauf.

1937 steht Pola Wolf wegen Giftmischerei vor Gericht. Nur mit Glück haben Panigl und seine Frau drei heimtückische Mordversuche überstanden. Die Hintergründe des Falls kommen im Prozeß nicht zur Sprache. Polas Motiv bleibt ungeklärt.

Erst 1945 nach Kriegsende nimmt sie die Spur zu Panigl wieder auf…

 

MANDRAGORA, auch Alraune oder Henkerswurzel genannt. Die „Königin aller Zauberkräuter“. Wegen der menschenähnlichen Form ihrer Wurzel hat diese Pflanze schon frühzeitig die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich gezogen. Die aus dem Persischen stammende Bedeutung Mandragora (= Liebeskraut) weist auf die im Altertum übliche Verwendung als Aphrodisiakum hin. Sie dient als Glücksbringer und ist eine der wichtigsten Bestandteile für Hexenkünste und magische Rituale. Die Wurzel wirkt berauschend und halluzinogen, bei hoher Dosis tritt der Tod durch Atemlähmung ein.

alraunenwurzel
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Die Kälte fraß an ihren Zehen. Sie stieg hoch wie ein eisiger Fluss, der sie aus dem Bett trug, hinunterzog in seine hell schimmernde Tiefe, so frostig schön. Sie streckte die Hände aus, um sich festzuhalten, aber anstelle des hölzernen Bettpfostens fühlte sie nur die Glätte von Eisschollen. Selbst die Tränen in ihren Augen waren gefroren, runde, durchsichtige Kugeln, in denen das Licht aus der Tiefe tanzte. Eine Stimme sang hoch oben, fern und klagend, ein Lied, dessen Worte sie nicht verstand. Fremde Sprache. Mutters Stimme. Ihr Herz wurde leichter. Sie musste sich nicht wehren. Nur dem Strom hingeben. Die Kälte umarmen.

„Bitte! Hören Sie nicht! Um Himmels willen!“

Sie wollte die Ohren verschließen. Sie gehörte nicht hierher. Sie konnte keine Bitten erfüllen. Sie war doch schon fort. Doch da spürte sie schon ihre krampfhaft zusammengeballten Finger und die Bettdecke, die sie umklammert hielten. Nach dem Gewitter hatte das Wetter umgeschlagen. Der Nachtwind blies durch die zerbrochene Fensterscheibe. Der Pappendeckel, der das Fenster abdichten sollte, war lose, er knatterte und klopfte bei jedem Windstoß. Das hatte Pola aufgeweckt, in die Wirklichkeit zurückgeholt. Wenn sie nun weiterschliefe, würde sie unten ankommen, zwischen den hellen Steinen zum Wassergrund sinken, sich vom Strom forttragen lassen, zu der anderen Seite, wo sie warteten? So viele. Mit ihren Verstümmelungen, die nicht mehr schmerzten.

Da war die Stimme wieder, hoch und flehend, und eine Hand, die an der Türklinke rüttelte. Pola erhob sich. Ihre Zehen waren vor Kälte erstarrt, doch die Füße trugen sie. Sie sperrte auf. Die Frau kam zu ihr herein und warf die Tür hinter sich zu. Es war nicht mehr ganz dunkel im Zimmer. Verwundert erkannte Pola Luise.

„Ich habe schon Angst gehabt, Sie würden nicht aufmachen.“ Luise klang besorgt.

„Ich höre Sie oft in der Nacht, aber heute – was ist denn los? Schlecht geträumt?“ Sie legte eine Hand auf Polas Arm. „Ich hatte plötzlich das Gefühl, Sie sollten nicht allein sein.“

Pola kehrte in ihr Bett zurück. Die Decke war ein Stück alter Vorhangstoff, sie wärmte nicht. Luise kam ihr nach. „Ist es Ihnen recht, wenn ich bleibe?“

Pola rückte ein Stück beiseite. Sie überließ Luise ein Stück Decke. Noch immer sprach sie nicht. Sie konnte nicht. Ganz nah saßen sie nebeneinander. Ein Geruch stieg aus Luises Kleidern auf, etwas Frisches, ein wenig süß, ein wenig herb.

„Danke“, sagte Luise.

Sie sank plötzlich in Polas Kissen zurück, und Pola folgte ihrem Beispiel, sie tauchte ein in die Wärme und Weichheit, den zarten Duft eines Parfums. Warum ist sie gekommen, dachte sie, und dann nichts mehr.

So schliefen sie, bis nebenan Herr Karner zu husten und räuspern begann, sein Morgenritual, mit dem er den Tag begrüßte.

Pola erwachte früher als Luise. Sie dachte an den eisigen Fluss, der sie durch die Nacht getragen hatte. Wie es weitergegangen wäre, hätte Luise sie nicht geweckt. Wenn das Sterben so leicht war, warum kämpften sie alle so erbittert um das Überleben? Dort war es kalt gewesen, so kalt wie nirgends vorher. Ihr Körper erinnerte sich. Nun wäre sie Asche auf den Blättern der Bäume, auf den Feldern, wohin sie der Wind trug, dort weit im Osten, zur Ruhe gebettet, wo der Wind Rast machte, dort auch sie? Und das Kind?

Die Stirn der blonden Frau war ohne Makel, wie die eines Kindes, und ihr Hals glatt und weiß, die Lippen so sanft geschlossen, als wüssten sie keine bösen Worte. Ihre Augenbrauen hatte Luise ausgezupft bis auf einen hohen Bogen, was ihr einen überraschten und erfreuten Ausdruck verlieh, selbst im Schlaf. Die Wimpern waren lang und dicht, ganz hell, wie das Haar.

Unter Polas Musterung begann Luise sich zu regen. Ein Zucken lief über ihre Stirn. Sie schlug die Augen auf und sah Pola groß an. Das Blau des Meeres, das Pola nie gesehen hatte, so musste es sein, vor der Küste Montenegros, wo Nadija die Sommer ihrer Kindheit verbracht hatte. Dunkelblau und grün und durchscheinend bis zum Grund, golden und blau am Ufer, im Sonnenlicht, wenn die Felsen ihre Schatten warfen, silbrig grau im Mondenschein. Das Meer in Nadijas Erinnerung war wie ein Gedicht. Luise erwiderte ihren Blick, ruhig und aufmerksam. Was sah Luise? In ihren Augen entdeckte Pola nicht einen Funken des Ekels und Entsetzens, das die junge Frau bei ihrem Anblick empfinden musste.

„Guten Morgen“, sagte Pola.

Luise lächelte, noch verschlafen. Wie ein Liebespaar umschlungen lagen sie auf dem schmalen Ottoman in Herrn Karners Wohnzimmer.

„Diese Nacht werde ich nicht vergessen.“ Sie küsste Polas Wange.

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Kriminacht im Wasserturm Wien. Foto: Karl Leitner