CAFÉ PRÜCKEL: LESUNG AUS „DIE FASSADE“

Donnerstag, 4. Juli 2019  20 UHR
CAFÉ PRÜCKEL
Stubenring 41010 Wien

 

Das Haus vor ihr war ebenerdig, mit drei hohen Schornsteinen, aus denen Rauch aufstieg. Sie ging näher, bis sie den Schriftzug auf der Fassade lesen konnte: Bäckerei Josef Lang. Eingang gleich um die Ecke. Der gemalte Finger darunter zeigte die Richtung an. Gegründet 1830.

Die Tür der Bäckerei öffnete sich. Ein hoch gewachsener Mann kam heraus und wandte sich nach einem raschen Blick zu ihr herüber wieder ab. Sie wollte mit ihm sprechen, aber sie brachte keinen Ton hervor. Ein neuerlicher Windstoß traf sie von hinten und trieb die Nebelschwaden vor sich her. Der Mann verschwand im wallenden Weiß. Sie lief über die Straße und weiter, bis sie weit vor sich seinen schwarzen Mantel entdeckte. Den Kopf vorgebeugt, strebte er davon. Nur ein paar Schritte trennten sie noch von ihrem Haus, da fiel ihr Blick auf einen leuchtend roten Fleck, dicht neben der Gehsteigkante. Sie bückte sich und fand die verlorene Spielkarte. Die Herzdame war in Gesellschaft des Pikbuben.

Sie rief ihm nach. Diesmal war ihre Stimme klar, aber sie ging unter im Lärm des Fahrzeuges, das die Straße passierte. Metallbespannte Räder holperten über das alte Kopfsteinpflaster. Sie holte den Schlüssel aus ihrer Manteltasche und wollte das Haustor aufsperren. Sie stieß auf rauhen Stein. Mit beiden Händen tastete sie die Mauer entlang. Da war keine Tür. Da war kein Haus.

 

Im Rahmen der Podium-Sommerlesereihe Ferne Spiegel – Literatur und Geschichte liest Susanne Ayoub aus der Novelle „Die Fassade“. Der Text ist eine Weiterentwicklung ihres Beitrags in dem künstlerischen Architektur-Wörterbuch „Sprache der Straße“ (hg Mark Gilbert, Hans Hinterholzer, Wolfgang Niederwieser. Verlag Sonderzahl 2005)