Schattenbraut

Roman
Verlag Hoffmann und Campe Hamburg 2006

Zwei Familien stehen im Zentrum: Der Handschuhmacher Julius Tallos und die wohlhabende jüdische Fabrikantenfamilie Sebestyen. Der soziale Aufstieg der einen, begleitet von der Vertreibung und Auslöschung der anderen. Schuld, die auch nach einem Dreivierteljahrhundert nicht verjährt.

Erst als ein unbekannter Verwandter namens Emilio bei ihr auftaucht, erfährt Valerie , dass ihre Mutter Ona als Fünfjährige auf einem Flüchtlingschiff nach Havanna reiste, ein Kindheitstrauma, von dem sie sich nie erholte. Warum nie über Valeries Vater gesprochen wurde und was Raoul widerfuhr, als er nach dem Krieg nach Wien zurückkehrte, um seine Fabrik von der Familie Tallos zurückzubekommen.

In Friederikes Verlustschmerz und in Onas verrückter Angst vor Berührungen sieht Valerie sich selbst widergespiegelt. Valeries dunkle Seite, ihr heimliches Nachtleben, ist ein sicherer Hafen, in dem sie ihre Sexualität entfalten kann. Nähe ist gefährlich – aber Valerie hat die Wahl…

Eine wahre Geschichte - 1939, unbegleitete Kinder auf dem Flüchtlingsschiff nach Kuba
Eine wahre Geschichte – 1939, unbegleitete Kinder auf dem Flüchtlingsschiff nach Kuba

Veronika weinte nicht. Sie ließ sich den Rucksack von Friederike abnehmen. Zuerst glaubte Friederike, sie hätte nicht begriffen. Aber dann sagte sie:

„Conrad-Bärli lieber in Wien sein will. Wenn Conrad nicht mitwill, bleiben die anderen auch bei ihm.“

Friederike erhielt einen Besucherpassagierschein, um mit Veronika an Bord zu gehen. So konnte sie ihr beim Beziehen der Kabine helfen und ihr Gepäck verstauen. Vom Steward John, der für ihre Kajüte zuständig war, erfuhren sie, dass mehr als hundert Kinder auf der Habanera mitfahren würden, die meisten davon in der Touristenklasse.

„Du wirst viel Gesellschaft zum Spielen haben“, sagte der Steward.

„Wie schön“, antwortete Friederike für Veronika.

Veronika schwieg. Sie fürchtete sich vor Kindern.

Die Kabinen der Touristenklasse befanden sich auf dem Hinterschiff des zweiten und dritten Decks. Sie boten Platz für zwei bis vier Personen. Der Steward führte sie zu Kajüte Nummer 202, einer teuren Außenkabine auf dem zweiten Deck. Für das Gepäck gab es einen kleinen Spind. Ein Tisch, Stühle und ein Waschbecken vervollständigten die Einrichtung. Die Ausstattung war aus dunkelbraunem Holz mit roten Stoffbezügen, gediegen und freudlos düster. Friederike legte die Hände auf Veronikas Schultern und drehte sie zu sich um. „Mädi!“ Es gab keinen Aufschub mehr.

Die dunklen Augen blickten aufmerksam und ernst, so verständig, wie ein Kind in diesem Alter gar nicht sein konnte. Vielleicht tat es ihr ja sogar gut, dass sie nun endlich andere Menschen kennenlernte, eine neue Welt. Was sie hinter sich ließ, dieses geduckte Dasein in dem Kämmerchen der Kinderfrau, ohne Mutter und Vater, war leicht zu verlassen, leicht zu vergessen, dachte Friederike. In drei Wochen, wenn sie in Havanna an Land ging, würde ein neues Leben anfangen.

„Ich darf nicht auf dem Schiff bleiben“, sagte Friederike. Sie hob Veronika auf ihr Bett, die obere Koje neben dem Bullauge. „Ich habe keine Fahrkarte bekommen.“

Das war nicht einmal eine Lüge. Der Journalist Ernst Wolf hatte keinen Anhang besessen. „Alle werden sehr nett zu dir sein.“