Engelsgift

Roman
Verlag Hoffmann und Campe Hamburg 2004

Die Anklage lautet auf Mord: Karoline Streicher soll ihre ganze Familie, den Ehemann, die Kinder, die Tante und eine Untermieterin vergiftet haben. Nur eines ihrer Opfer, der älteste Sohn Hermann, überlebt. Karoline Streicher wird 1938 zum Tode verurteilt und hingerichtet.

Sechzig Jahre später bricht Hermann Streicher sein Schweigen. Er gesteht Marie Hovath, einer Journalistin, die den alten Mordfall recherchiert, dass seine Mutter das Opfer eines Justizirrtums geworden sei. Vergeblich versucht Marie, sich dem vermeintlich Wahnsinnigen zu entziehen. Er ist, wie seine Mutter, ein Mensch, der zu blenden und zu betören versteht. Er verspricht ihr die Wahrheit, die ganze Wahrheit.

Vor dem politischen und sozialen Hintergrund des Austrofaschismus erzählt „Engelsgift“ die Geschichte eines Hasses, einer Eifersucht, einer tödlichen Rache, die Geschichte einer extremen Beziehung zwischen einer Mutter und ihrem Sohn.

Karoline Streicher fürchtete Ratten, Mäuse, alle die flinken Nagetiere, die sich in Haus und Hof, in den Vorratskammern, den Scheunen und Ställen herumtrieben, mehr noch, geriet sie bei ihrem Anblick in Panik. Ob nun ihr hysterischer Zusammenbruch während der Untersuchungshaft simuliert gewesen war oder nicht, sie litt unter übersteigerten Ängsten, denen mit Vernunft nicht beizukommen war. Gudrun fand großes Behagen daran, sie zu schüren, das war ihre Rache, und stets von neuem süß, wenn Karolines Lippen zu beben begannen und sie mit weit aufgerissenen Augen die Zimmerwinkel nach dem verhassten Getier absuchte.

„Sie haben das Linoleum in der Küche angenagt.“ erzählte Gudrun zum Beispiel, beiläufig beim Frühstück, und sie konnte sicher sein, dass Karoline der Bissen im Hals steckenblieb und sie nicht weiteressen mochte. Oder sie fand den Sack mit dem Mehl in der Vorratskammer von Ratten heimgesucht, und ihren Kot in der Küchenkredenz und ein langes Schnurrbarthaar neben der Butterdose. „Wir müssen Nachschub von Kohn holen,“ meinte sie, „das Ungeziefer nimmt schon wieder überhand, eine Schande, wie schnell unser Vorrat verbraucht war. Man muss ihn das nächste Mal fragen, ob er nicht ein wirksameres Mittel weiß, damit wir das Problem ein für alle Mal aus der Welt schaffen.“

„Glaubst du, dass so etwas möglich ist?“ fragte Karoline bange. „Ich gehe nachher gleich zu ihm.“

Wiener Krimi voll süßen Giftes

Isaak Kohn hatte eine Drogerie in der Galitzinstraße, am Fuß unserer Schrebergartensiedlung. Er verkaufte Seife, Rasiercreme, Speisesoda und Haarwasser sowie allerlei andere Kleinigkeiten, die das Leben angenehmer gestalten und die sich die Familie Streicher immer weniger leisten konnte. Ich begleitete Karoline oft in die Drogerie. An der Fassade neben der Eingangstür hing ein Emailschild, das ich immer wieder mit Entzücken betrachtete. Auf weißem Grund war in blauen Buchstaben ein Wort gemalt. Es hieß „Thallium“, das wusste ich, lange bevor ich lesen lernte. Von oben hingen Würste, Geselchtes und Speckseiten und dahinter wiegten sich Kornfelder im Sommerwind. Über die Buchstaben, die schräg nach oben verliefen, strebten kleine Nager, die Mäuse und Ratten, den Leckerbissen entgegen – ohne ihr Ziel je zu erreichen. Das Thallium hinderte sie, es lähmte ihnen die Gliedmaßen, brachte sie zum Sturz. So purzelten sie von den höchsten Buchstaben in die Tiefe, zu den Brüdern und Schwestern, die unten zwischen den Ähren schon früher ein gleiches Schicksal gefunden hatten, den Tod. „Thallokörner, Thallopaste, wirkungsvoll in Speisekammer, Haus und Flur“ warb die Bildunterschrift. Das Schild hatte die Heiterkeit und Unschuld einer Kinderbuchillustration, eine freundliche Einladung, die niemand an Tod denken ließ, sondern Appetit machte auf die frischen Blutwürste und den fetten Bauernspeck und die Schönheit des reifen Getreides zeigte.

„Wir werden mit dem Ungeziefer nicht mehr fertig.“ wandte sich Karoline aufgeregt an den Drogisten, der in einer Wolke gemischter Gerüche, Petroleum, Chlor und Spiritus, aus dem Lager kam, als er die Ladenglocke hörte.

Werbeschild für das Rattengift Thallium
Werbeschild für das Rattengift Thallium

„Stets zu Diensten, gnädige Frau.“ grüßte Kohn freundlich. „Das wäre doch gelacht, wenn uns das nicht gelingen sollte. Wirken die Körner nicht, greift man zur Paste.“ Er holte unter dem Ladentisch eine blauweiße Tube hervor, mit dem gleichen Schriftzug, der auf dem Werbeschild zu sehen war. „Nur Vorsicht, dass das nicht in die falsche Kehle gerät.“ Mit seinem dürren Zeigefinger wies der alte Drogist auf mich. „Das könnte böse ausgehen für so einen kleinen Wicht.“

Wäre es so, las ich in Karolines Blick, hätte ich endlich meinen Frieden, dann drehte sie mir den Rücken zu. „Geben Sie mir zwölf Tuben.“ verlangte sie. Kohn fragte nicht lange. Es kam nicht so oft vor dieser Tage, dass jemand große Bestellungen aufgab. Er bezweifelte – und das sagte er später, als Hauptzeuge der Anklage in Karolines Prozess – dass es in dem Schrebergarten derart viele Ratten geben konnte. Aber es war nicht an ihm, der Kundschaft Vorschriften zu machen. Karoline hatte immer noch, wenn auch oft mit langer Verzögerung, ihre Rechnung beglichen. Er wickelte die zwölf Tuben in weißes Packpapier, schrieb die 36 Groschen, die sie kosteten, in das Buch mit den Außenständen und wünschte Karoline viel Glück. Es dauerte viele Monate, bis er sie wiedersah. Erst nachdem Ingeborg zur Welt gekommen und bald darauf die Ratten in ihr Leben zurückgekehrt waren.